Freiheit, Verantwortung und der Weg zum autonomen Akteur

so steht es zwar nicht im Titel, aber mit diesen Inhalten beschäftigt sich das Buch Das Handwerk der Freiheit im Wesentlichen, das der 1944 in Bern geborene Schweizer Philosoph Peter Bieri schrieb. Es ist sein philosophisches Hauptwerk.

Ich möchte mit diesem Blog, in aller Kürze, die für mich lukrativen Kerngedanken seines Hauptwerkes aufzeigen und diese für meine Gedankenwelt konservieren. Jeder, der meint aus diesem Exzerpt etwas ziehen zu können, ist herzlich zum Lesen eingeladen.

Das  2001 von Peter Bieri vorgelegte Buch Das Handwerk der Freiheit hat also die Freiheit zum Gegenstand und beschäftigt sich mit den Fragen, wie Willensfreiheit entsteht, was sie ist und wie sie sinnvoll gedacht werden kann. Durch seine aus dem Leben gegriffenen Beispiele besticht Bieri und kommt zu einer für philosophische Schriften besonderen Wirklichkeitsnähe und Allgemeinverständlichkeit.

Bieri führt uns in dem Buch zielsicher durch ein Labyrinth von Termini, alle im Zusammenhang mit dem Herzstück Freiheit, einem Begriff, der nur oberflächlich betrachtet selbsterklärend ist.

Selbst Jean-Paul Sartre spricht in seinem philosophischen Hauptwerk Das Sein und das Nichts, 1943 noch von absoluter Freiheit, einem nicht haltbaren Begriff, den er deshalb in seinen Spätjahren fallen ließ und bereits 1969 in die Nähe von Bieri`s Freiheitsbegriff korrigierte, als er sagte: „Freiheit ist jene kleine Bewegung, die aus einem völlig gesellschaftlich bedingten Wesen einen Menschen macht, der nicht in allem das darstellt, was von seinem Bedingtsein herrührt.“

Gemeinhin wird der Begriff Freiheit mit Unabhängigkeit, Unbedingtheit u.ä. assoziiert und daraus ein Widerspruch zu Kausalität und Bedingtheit konstruiert. Hierin liegt bereits einer der Hauptdenkfehler. Bieri nimmt uns bei der Hand und klärt prägnant darüber auf, warum diese Annahme falsch ist:

Ein absolut oder unbedingt freier Wille, der ohne Bedingungen, sozusagen losgelöst von unseren Gedanken, Empfindungen, Phantasien, Erinnerungen, ja sogar von unserem Körper unabhängig sein müsste, hätte nichts mit uns zu tun. Er ließe uns keine Entscheidung, zumindest keine, in die unser Willenbildungsprozess einfließen würde und deshalb unsere Entscheidung wäre. Es wäre eine Entscheidung, die uns geschähe oder zustoßen würde und daher eine Entscheidung, die ohne Freiheit oder ohnmächtig passieren würde.  Das teuflische an unbedingter Freiheit wäre also, dass sie keine Freiheit bzw. vollkommene Ohnmacht bedeuten würde. Falsch ist die Annahme eines Widerspruches zwischen Bedingtheit und Freiheit auch deshalb, weil die Bedingtheit oft falsch als „keine Freiheit“ verstanden wird, obgleich in der Bedingtheit doch alle unsere Attribute und Kennzeichen festgemacht sind, die uns ausmachen und deshalb unsere Entscheidung mit unserer Persönlichkeit färben. Es gilt zu verstehen, dass in der Bedingtheit zwar eine Begrenzung meiner Willensausformung nicht nur durch äußere Umstände, sondern auch durch Umstände in mir selbst liegt, diese jedoch keine Beeinträchtigung der Freiheit darstellt. Die bedingte Freiheit ist die einzige und unsere Freiheit. Wir sind frei, weil wir die Fähigkeit besitzen, unseren Willen in Abhängigkeit von unserem Urteil zu verändern!

Folgt man Bieri`s Denkbewegung, so kommt man zum Schluss, dass die Begrenzung des Wollens durch etwas, was vorausgeht, eben kein Hindernis für die Freiheit, sondern deren Voraussetzung ist.

Sind wir jedoch nicht im unbedingten Sinn frei, so scheint es als würde die Idee der Verantwortung und damit die Praxis des Bestrafens ihren Sinn und ihre Berechtigung verlieren. Verantwortung basiert einerseits auf der Kenntnis von Regeln des Sollen und Dürfen (= moralischer Maßstab), andererseits auf freier Wahl.  Die freie Wahl erfährt durch die Bedingtheit keine Behinderung, sie wird, wie wir sahen, durch sie erst möglich. Der moralische Maßstab hingegen, als die Summe unserer moralischen Erwartungen in Form von Vorschriften, Forderungen, Verpflichtungen, die unsere Beziehungen zu anderen Menschen prägen, ist schwer begründbar.  Werden unsere moralischen Erwartungen erfüllt, empfinden wir Respekt, Achtung, Bewunderung, Stolz, ist dies nicht der Fall, haben wir ein schlechtes Gewissen oder empfinden Reue, Scham etc. Bieri konstruiert deshalb im Zentrum des Buches einen Disput zwischen Raskolnikow, einer Figur aus Dostojewskis Roman Schuld und Sühne, und einem Richter. Raskolnikow, der, um an Geld zu kommen, einen Mord beging, behauptet vor dem Richter, er habe aufgrund seiner lückenlos kausal verknüpften Lebensgeschichte „nicht anders entscheiden gekonnt“. Der Mord sei die notwendige Konsequenz gewesen und er sei deshalb nicht für die Tat verantwortlich zu machen. Bieri entwickelt im Rahmen dieses Streitgespräches eine Argumentation des Richters, die leider auch nur einen schwer vertretbaren Standpunkt für Moral aufzuzeigen vermag, einen Standpunkt, den schon Kant nicht wirklich zu begründen wusste. „Wir – und die meisten von uns – haben den Wunsch, auf andere und Ihre Bedürfnisse Rücksicht zu nehmen. Wir wollen aus diesem Wunsch heraus in dieser Lebensform leben und dulden es einfach nicht, wenn jemand so rücksichtslos handelt“, so spricht der Richter sinngemäß zu Raskolnikow.  Obwohl der längere Wortwechsel zwischen Raskolnikow und dem Richter Einblicke in die Moralphilosophie gewährt und deshalb durchaus lohnt, so ist das Ergebnis aus meiner Sicht, wie schon bei Kant, der zwar eine vernuftgebundene Moral, letztlich aber auch keine autonome Moral zu formulieren wusste, auch bei Bieri unbefriedigend.

Dass Bieri hier nicht ganz zufrieden stellen kann, ist nicht verwunderlich, wenn man weiß, dass Moral allenfalls über einen Nutzen vernünftig zu „begründen“ ist. Die Moralphilosophie erschöpft sich regelmäßig in rationellen Appellen an das Individuum, einzusehen, dass es auch in seinem Sinne günstig wäre, bestimmte Haltungen einzunehmen. Auf die Frage, ob man einen Menschen nicht schlachten soll, wenn zwei oder mehr andere Menschen durch seine „Ersatzteile“ gerettet werden könnten, findet man keine rationelle Antwort, die beweist, dass man das nicht soll. Unsere Antwort „Nein, das soll man nicht, weil wir das Individuum als so hohen Wert schätzen, dass wir, auch wenn fünf andere Menschen gerettet werden könnten, das nicht tun“, ist argumentativ nichts wert, sie ist nur eine Erinnerung an eine Wertschätzung und Moral, die schon vorhanden sein muss. Bringt jemand diese Wertschätzung nicht mit, ist man argumentativ am Ende.

So könnte ich mit Bieri insgesamt zu der simplen Antwort tendieren, dass Freiheit grundsätzlich und unmittelbar eine Verantwortung für den möglichen Handlungsspielraum nach sich zieht, und da spielt es keine Rolle wie groß die Bedingtheit der Freiheit ist, da erst Unfreiheit oder das Fehlen von Freiheit von der Verantwortung entbinden würde. Welche Moral dieser Verantwortung allerdings zu Grunde zu legen wäre, müsste in einem weiteren Werk erörtert werden.

Wesentlich Gewinn bringender wird Bieri wieder, wenn er uns das Handwerk der Freiheit detailliert aufschlüsselt. Es geht nicht nur darum, sich einen persönlichen Willen zu erarbeiten, sondern unsere ganze Persönlichkeit zu entwickeln. Indem wir durch Überlegen und durch das Spiel der Phantasie einen Willen ausbilden, arbeiten wir an uns selbst. Wir geben dem Willen ein Profil, das vorher nicht da war. In diesem Sinn ist man nach einer Entscheidung ein anderer als vorher. Die Aneignung des Willens geschieht in drei wesentlichen Schritten. Da ist zum einen die Artikulation, also das Fassen des Willens in Worte oder Bilder, zum anderen das genaue Verstehen der Herkunft und der Entwicklung unseres Willen. Im dritten Schritt folgt die Bewertung, ob ich mich mit meinen Wünschen identifiziere oder mich von ihnen distanziere, also für oder gegen meine Wünsche Partei ergreife. Je genauer die Artikulation und das Verstehen erfolgt, desto differenzierter wird die Bewertung ausfallen. Aus der Bewertung instrumenteller und substantieller Art, also der Unterscheidung von Wünschen die für mich funktional günstig sind und Wünschen, die ich unabhängig vom Nutzen möchte, folgt mein Selbstbild, d.h. welche Person ich sein möchte. Ein Wille, der zu meinem Selbstbild passt, bzw. mit dem ich mich identifizieren kann, ist ein freier Wille. Umgekehrt liegt in der Unstimmigkeit zwischen dem erträumten und dem tatsächlichen Selbstbild Unfreiheit, so Bieri. Bei der Artikulation und dem Verstehen handelt es sich um einen Erkenntnisprozess. Wachsende Erkenntnis bedeutet wachsende Freiheit für unseren Willen. So gesehen ist Selbsterkenntnis ein Maß für Willensfreiheit. Die Geschichte und gegenwärtige Struktur meines Wünschens bestimmt wiederum meine Person.

Dennoch greift auch die Sichtweise, dass die Freiheit des Willens in einer Übereinstimmung mit dem Selbstbild liegt, noch zu kurz, denn Wünsche und Selbstbild greifen organisch ineinander. So ist mein Selbstbild einerseits zur Bewertung meiner Wünsche unabdingbar, andererseits wird mein Selbstbild von meinen Wünschen erzeugt. Probleme kann es einerseits geben, wenn sich mein Selbstbild im Nachhinein verändert, andererseits kann es sein, dass eine bewertende Parteinahme aufgrund widerstreitender Wünsche dazu führt, dass keine Erzeugung des Selbstbildes möglich ist und der Maßstab fehlt.

Da sich unsere Wünsche, wie auch unser Selbstbild im Laufe der Zeit verändern können, ist die Aneignung des Willens und folglich auch die Arbeit an der Freiheit des Willens ein ständiger Prozess, in dem es gilt, den Abstand zwischen meinem Selbstbild und meinem Willen zu verkleinern.

Die Art und Weise wie Bieri uns sprachgewaltig, detailgenau und facettenreich innere Vorgänge näher bringen kann und dadurch hilft, zu selbstbestimmten, mündigen Menschen zu werden, ist grandios. Für mich als Existenzialist ist Bieri`s Buch, das über die drei angerissenen Kerngedanken noch weit hinausgeht, schon unmittelbar nach Zuschlagen des hinteren Buchdeckels zu einem festen, inkorporierten Bestandteil geworden. Ich kann es nur empfehlen.

Denn: Wer Bieri`s Buch gelesen hat, verfügt über alle Werkzeuge und Hilfsmittel sein Leben möglichst selbstbestimmt zu gestalten und das Handwerk der Freiheit in Vollendung auszuüben.

Quelle:

Das Handwerk der Freiheit – Über die Entdeckung des eigenen Willens von Peter Bieri, München, Carl Hanser Verlag, 2001, 448 S., ISBN 978-3-446-20070-8

Zum Autor:

Promoviert hatte Peter Bieri 1971 bei dem Gadamer-Schüler Dieter Henrich und bei dem Heidegger-Schüler Ernst Tugendhat. Nach Studien u.a. in Berkeley, Harvard, Heidelberg, Hamburg und Marburg lehrte Bieri ab 1993 Philosophie an der Freien Universität Berlin. Verärgert über den Universitätsbetrieb äußerte sich Bieri u.a. über die „inhaltlosen Fassaden“ und die „Diktatur der Geschäftigkeit“ an den Universitäten, gab folgerichtig 2007 seinen Lehrstuhl für Sprachphilosophie und Analytische Philosophie aus Protest gegen die Hochschulpolitik zurück und meldete sich vorzeitig in den akademischen Ruhestand ab. Die auf das Wort gefolgte Tat, hin zu mehr Selbstbestimmung, war für Bieri nur konsequent, denn „die Selbstbestimmung ist ein Ideal, dem es sich anzunähern gilt“, so Bieri.

Empfehlenswert: Wie wäre es, gebildet zu sein? von Peter Bieri

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